Schule des Rades

Arnold Keyserling

Bewusstsein und Evolution

Wu Chi - Tai Chi

McLean bezeichnet das Stammhirn als Reptilhirn, weil die Schlange sich aufrichten kann und bereits dieses Gehirn besitzt. Die Jainatradition spricht vom Pflanzenhirn. Aufmerksamkeit wird nicht durch Nahrung als Kraft angejocht, sondern durch Öffnung gegenüber der seltsamen attraktorzugänglichen Lebensenergie, dem Chi, deren begriffliche Fassung durch die Chinesen versucht wurde. Die Chinesen fassen sie durch zwei Symbole, Wu Chi und Tai Chi:

Wu Chi
W u C h i
Tai Chi
T a i C h i

Wu Chi ist die innere Leere, wie sie in der Körperruhe der Meditation erreicht wird. Durch Verlängerung dieser Ruhe wie im Zen wird die Kette der Assoziationen durchstoßen und der Mensch erreicht als Hintergrund der Aufmerksamkeit, also des Wollens das Gewahrsein, die persönliche und menschheitliche Subjektivität, gleich der griechischen Methexis vereint. Auch in Afrika bezeichnet man den Schamanen als jemand, der in seinem Bauch eine größere Quantität von Mangu (Chi) besitzt.

Die einfachen Vorübungen der chinesischen und japanischen Kriegskünste eröffnen den Weg zum Stammhirn und damit zur Aufmerksamkeit. Die wirkliche Kraft des Menschen ist nicht auf Muskeln begründet — diese dienen der Koordination — sondern auf der Fähigkeit, die Bewegungen durch das Bewusstsein zu koordinieren und zu lenken, also den aufsteigenden sensorischen und absteigenden motorischen Weg des Bewusstseins zu verknüpfen, indirekt durch die Chakras. Der Körper wird innerlich kinästhetisch — als Vereinigung von Sinneswahrnehmung und motorischer Bewegungsfähigkeit — als Wesensleib erschaffen. Die Schamanen erklären, jeder Teil des physischen Körpers, der nicht bewusst gemacht wurde, kann zum Sitz eines fremden Geistes werden, und die Aufgabe des Schamanen sei es, diese Besessenheit durch Bewusstwerdung zu überwinden und den Körper damit in seinem seelischen und geistigen Aspekt zu integrieren.

Die Pflanze ist imstande, die Sonnenenergie direkt aufzunehmen und zur Synthese der Kohlenwasserstoffe zu verwenden. Der Yogi kann die innere Sonne, aus der die Aufmerksamkeit herrührt, als Energiequelle benützen. Man sieht dies bei den Heilern, die durch Handauflegen den Strom des Chi wieder ins Fließen bringen und meistens für die kausal-mechanische Einstellung der technologischen Medizin wenig Verständnis haben.

So wäre das Erwecken der Aufmerksamkeit die Integration der mineralischen Schicht, die senkrechte Achse und das Erwecken des Stammhirns die Erkenntnis der pflanzlichen Natur. An beiden hat der menschliche Organismus teil; ein Baum hat die gleichen chemischen Elemente wie der menschliche Körper, nur anders organisiert.

Tai Chi bedeutet nun, das eigene Wollen in die große Harmonie des Tao einzugliedern. Tai Chi Chuan als Übung heißt, den Körper durch abwechselnde rechtwinklige und kreisförmige Bewegungen in der Yangform, in Harmonie mit der Fülle der Schöpfung zu bringen. Diese Zweiheit im Symbol — Raum rechtwinklig und Zeit kreisförmig — ist die Voraussetzung, zwischen Stammhirn und Zwischenhirn — limbisches System — die Verbindung zu schaffen, die nicht Notwendig besteht.

Wiederholung von Lust und Vermeidung von Schmerz sind nicht direkt mit dem Stammhirn verknüpft. Das limbische System ist hedonistisch. Es tendiert, lustvolle Erfahrungen zu wiederholen und schmerzliche ganzheitlich abzublocken. Beim Tier, wo das limbische System der Träger ist und von der Zweiheit der Selbsterhaltung und der Arterhaltung gelenkt wird, vollzieht sich die Einordnung ohne Problem, beim Menschen hingegen muss die Harmonie, das Tao, intentional verwirklicht werden. Er muss sich die Frage stellen, wie sprachlich formuliert seine persönlichen Ziele mit den kollektiven in Einklang kommen, Arterhaltung und Selbsterhaltung werden nun im sprachlichen Gebrauch zu Macht und Geld, als Triebfedern des Überlebens. Dies bedeutet eine Substantivierung von Territorialinstinkt (Geld oder Besitz) und hierarchischem Instinkt (Macht oder Stellung) des tierischen Aggressionstriebes. Wird die kollektive Bewusstseinsebene auf diese Wirklichkeit beschränkt, dann kann der Mensch sein Gewahrsein, also die wahre Subjektivität nicht mehr erreichen. Hier liegt nach dem früher zitierten Laborit das Crux der heutigen Öffentlichkeit, welche Kultur und persönlichen Weg trotz dem Ende der Ost-West Auseinandersetzung als Überbauten und nicht als existentiell entscheidend betrachtet.

Arnold Keyserling
Bewusstsein und Evolution · 1998
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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